Ja, auch ich habe ihn bewundert: Hartmut von Hentig war jahrzehntelang eine Orientierungsfigur der deutschen Pädagogik. Ich erinnere mich noch gut, wie ich irgendwann in den späten 70ern zum ersten Mal einen Aufsatz von ihm las und vom so ganz anderen Ton beeindruckt war, der da angeschlagen wurde. Hier kaute einer nicht wie sonst im wissenschaftlichen Betrieb üblich Theorieansätze und Forschungsergebnisse aus zweiter oder dritter Hand wieder – hier dachte einer auf eigene Rechnung.

Begeistert zitierte ich in meiner Dissertation seine „Abtrittsvorlesung“ (Hentig wurde schon 1987 emeritiert), weil dort einer fröhlichen und neugierigen Wissenschaft das Wort geredet wurde: Mit Hentig konnte man sich prima absetzen von einer in Routinen erstarrten Wissenschaftsbetriebsamkeit, „die sich ausdehnt wie ein Fettfleck und das Erkenntnisfortschritt nennt“ . Die von ihm gegründete Bielefelder Laborschule ist eine Art Wallfahrtsort für deutsche Pädagogen und sein Buch „Die Schule neu denken“ so etwas wie das Neue Testament vieler Bildungsreformer geworden. Und dann das: Anfang 2010 wurde – erneut, aber diesmal unüberhörbar – bekannt, dass von Hentigs Lebensgefährte Gerold Becker als langjähriger Direktor der Odenwaldschule in Dutzenden von Fällen ihm anvertraute Internatsschüler sexuell missbraucht hatte. Von Hentig verstieg sich zu der Erklärung, dass allenfalls Becker der Verführte gewesen sein könne. Inzwischen ist Becker verstorben, der Ruf der Odenwaldschule ruiniert – und von Hentig dabei, sein Lebenswerk zu dementieren. Die bislang letzte Etappe ist ein Aufsatz von HvH in der Literaturzeitschrift „Akzente“ . Unter der Überschrift „Ist Bildung nützlich?“ breitet HvH, der im Aufsatz unter dem Pseudonym N. N. firmiert, einen eindrucksvollen Korb an Lesefrüchten aus – allesamt mit dem Tenor, wie viel Unrecht dem armen N. N. doch durch eine blindwütige Kampagne geschehe. Neben Rousseau, Jesus, Sokrates und vielen anderen zu Unrecht Verfolgten steht das Schicksal des verkannten Gerechten N. N., der sich vor der medialen Hexenjagd und einem aufgehetzten Pöbel gottlob in die Parallelwelt seiner Belesenheit flüchten kann. Deshalb, so sein Fazit, sei Bildung eben doch nützlich. Bildung wird hier zum idealen Verblendungszusammenhang. Statt des stilisierten Selbstmitleids hätten von Hentigs frühere Verehrer ein Wort des Mitgefühls oder wenigstens des Selbstzweifels von diesem ehedem so großen Pädagogen erwartet. Nun ist er peinlich. Und wir sind um eine Lichtgestalt ärmer.