Der britische Autor C. P. Snow hatte in „Zwei Kulturen“(1959) die Geisteswissenschaften (engl. humanities) und die Naturwissenschaften (engl. science) als unvereinbare Wissenschaftskulturen beschrieben.
Vergessen hatte Snow indessen mit der Medizin eine Wissenschaftsdisziplin, in der die Uhren noch einmal ganz anders gehen. Während in den Geistes- und Sozialwissenschaften heute irgendwie die Alt-68er-Mentalitäten dominieren und unter den Naturwissenschaftlern der hemdsärmelige, genialische Forscher verbreitet scheint, der als moderner Eremit nur für seine Experimente lebt, gehört der Phänotyp des Medizin-Professors eher einer anderen Spezies an. Es wäre jedenfalls höchst reizvoll, die Fachkulturen von Medizin, Sozial- und Naturwissenschaften einmal mit dem Kategoriensystem der Kulturdimensionen zu beleuchten, die Geert Hofstede aus einem internationalen Vergleich gewonnen hat. Er unterscheidet zum Beispiel kollektive und individuelle Kulturen. Kollektivistische Kulturen sind im Vergleich zu individualistischen Kulturen stärker personen- als aufgabenorientiert, und die Aufrechterhaltung sozialer Harmonie wird den eigenen Bedürfnissen vorangestellt. Kollektivistische Kulturen integrieren den Menschen von Geburt an in starke Wir-Gruppen, die ihn ein Leben lang schützen – und dafür bedingungslose Loyalität verlangen. Eine zweite Dimension kultureller Unterschiede ist laut Hofstede das Ausmaß der Machtdistanz. Gesellschaften mit hoher Machtdistanz akzeptieren hierarchische Unterschiede, und in diesem Rahmen ist Kritik gegenüber hierarchisch Höhergestellten ein Affront. Dagegen ist es in Ländern mit geringer Machtdistanz leichter möglich, seinem Vorgesetzten zu widersprechen. Die Rituale der medizinischen Ausbildung erinnern stark an die Beschreibungen kollektivistischer Gesellschaften mit hoher Machtdistanz. Symptomatisch dafür ist die Visite, bei der selbstverständlich der Chefarzt vor seinem Tross das Zimmer betritt. Das Krankenzimmer mag noch so klein und eng sein – es gilt bis heute das ungeschriebene Gesetz, dass der Chef auch als Erster wieder das Zimmer verlässt. Insofern wäre die Medizin ohne Zweifel am anderen Ende der Skala von Machtdistanz und Kollektivismus anzusiedeln, gegenüber meinem Fach, der Erziehungswissenschaft, die zu den von Lothar Späth geschmähten „Diskussionswissenschaften“ zählt. Ob hier auch die Erklärung dafür zu finden ist, dass von kaum einem Universitäts-Mediziner ein kritisches Wort zur Schweinegrippen-Impfhysterie der Leitwölfe zu hören war?