Wenn es einen Wettbewerb um das akademische Unwort des Jahres gäbe, hätte der Neologismus „Bestehensgrenze“ gute Chancen auf einen ersten Platz. Mir jedenfalls begegnet dieses Wortungetüm in letzter Zeit auffallend oft. Dabei ist es keineswegs eine Neuerfindung. Für Fächer wie Medizin oder Jura scheint es ein alter Hut zu sein. Dort hat man offenbar schon längst alle Ermessensspielräume in der Bewertung der epidemischen Klausuren zugunsten gerichtsfest definierter „Bestehensgrenzen“ in den Prüfungsordnungen eliminiert.
Dass dabei auch kompliziertere Rechenoperationen für die Ermittlung von einklagbaren Rabatten die Bestehensgrenze an das Leistungsvermögen der gesamten Prüfungskohorte anpassen, gehört zu den Wunderlichkeiten dessen, was eigentlich eine Objektivierung der Prüfungsanforderungen sein sollte. Findige, auf Hochschulrecht spezialisierte Anwälte haben jetzt dafür gesorgt, dass die Diskussion über Bestehensgrenzen auch die Sozial- und Geisteswissenschaften erreicht. So werden bei den Beteiligungsnachweisen im Studium in juristischen Schriftsätzen Bestehensgrenzen angefochten. Schon das Abgeben eines leeren Blattes – so eine kaum satirisch zu nehmende Auslegung – belegt ein Mindestmaß an Beteiligung. Also darf der Beteiligungsnachweis nicht verweigert werden, sagen Juristen.
Wer bei einem Multiple-Choice-Test (sagen wir in Romanistik) durchfällt, braucht sich noch lange nicht geschlagen geben. Schon der Gang zum Rechtsanwalt kann Abhilfe schaffen. Der kann den Dozenten zur Offenlegung seiner Bewertungsmaßstäbe und zur Korrektur der Bestehensgrenze verdonnern lassen. Sicher mag es Fälle von willkürlich hochgeschraubten Prüfungsanforderungen mit gleichsam unmenschlichen Durchfallquoten gegeben haben, denen damit ein Riegel vorgeschoben wird. Ob derartiges allerdings dem auf allen Gebieten angestrebten Exzellenz-Status dienlich ist, steht auf einem anderen Blatt.
(veröffentlicht am: 18.02.2016)