Es ist ein fulminanter Mythos: der Glaube an das Erste, an das Grundlegende, an das Unfehlbare. Im Feld der Religion hat sich spätestens die aufgeklärte Moderne von derartigen Sicherheiten verabschiedet. Und die postmoderne Philosophie kann über Descartes’ Grundlegungsbemühungen („Ich denke, also bin ich“) oder die großen idealistischen Systeme eines Hegel oder Kant nur genauso schmunzeln wie über deren vermeintliche Überwindung durch den Dialektischen Materialismus eines Karl Marx.
Wo man indessen bis heute gelegentlich mit ungebrochener Inbrunst die Hoffnung auf das Absolute, auf die ultimativ richtige Erkenntnis antreffen kann, das sind die Lehrveranstaltungen zur empirischen Sozialforschung. Selbst wenn sich bei den Dozenten eine gewisse Abgeklärtheit feststellen lässt – spätestens bei den Studierenden, und dort vor allem bei den besonders engagierten und talentierten, trifft man ihn wieder an: den guten alten Glauben an die Letztbegründung, an den Königsweg der Erkenntnis. Die Überzeugung nämlich, dass die in völliger Reinheit und unter Berücksichtigung aller Vorschriften der Methodenliteratur durchgeführte empirische Erhebung die Wirklichkeit restlos offenbaren und aller Spekulation ein Ende setzen werde. Ob im Streit um Sarrazins Thesen, ob zur Frage der Studienqualität im Zeitalter der Bologna-Reform oder zur geschlechtsspezifischen Verteilung technischer Intelligenz – mit der richtigen Methode sollten sich alle Streitfragen beantworten lassen. Dass dem nicht so ist, lässt sich den jungen Wahrheitssuchern kaum vermitteln. Zu tief sitzt offenbar die Idee der unbestechlichen Wissenschaft, der reinen Erkenntnis. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an die Methodenseminare und Statistikkurse. Dort will man der vermeintlichen Geheimlehren teilhaftig werden, um sich das Rüstzeug zu holen, alle Rätsel dieser Welt zu lösen, alle sozialen Streitfragen durch die reine Empirie zu entscheiden. Bald 80 Jahre nach Karl Poppers „Logik der Forschung“ (1934) und bald 40 Jahre nach Paul K. Feyerabend und seinem Diktum „Against Method“ (1975) hat sich in der kleinen Gemeinde der Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker zwar herumgesprochen, dass die Sache mit der Enthüllungstheorie der Wahrheit nicht wirklich funktioniert –das hindert den sozialwissenschaftlichen Nachwuchs jedoch kaum, weiterhin einem aus der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts übernommenen Weg im Methodenverständnis anzuhängen, den Naturwissenschaftler selbst längst als Irrweg erkannt haben. Dass die Bekehrung zu einer bescheideneren Erkenntniserwartung zunächst mit Enttäuschung einhergeht, ändert nichts daran, dass sie ein wichtiges Bollwerk gegen Absolutheitsansprüche und Zwangsbeglückung darstellt.